Nordafrika steht vor entscheidenden politischen Weichenstellungen – mit spürbaren Folgen für Europa. Claudia Roth, entwicklungspolitische Sprecherin der Grünen-Bundestagsfraktion und Vorsitzende der Parlamentariergruppe Maghreb, beobachtet diese Prozesse seit Jahren intensiv. Als Mitglied im Auswärtigen Ausschuss gilt Sie als eine der profiliertesten Stimmen für globale Gerechtigkeit, multilaterale Zusammenarbeit und die Bedeutung von Kultur und Menschenrechten in der Außenpolitik.
Im Interview mit FOKUS AFRIKA erläutert sie, welche Prioritäten Deutschland in der Entwicklungszusammenarbeit setzen sollte, wie sie die aktuellen Weichenstellungen im UN-Sicherheitsrat bewertet und welche Bedeutung die Freilassung des Schriftstellers Boualem Sansal hat.
Grüne Schwerpunkte in der Entwicklungszusammenarbeit
FOKUS AFRIKA: Frau Roth, Sie sind die entwicklungspolitische Sprecherin Ihrer Fraktion. Welche politischen Leitlinien wollen Sie in dieser Legislaturperiode in der Entwicklungszusammenarbeit – einem Politikbereich, dessen Budget regelmäßig gekürzt und dessen Nutzen häufig hinterfragt wird – setzen?
Claudia Roth: Für mich ist klar: Entwicklungszusammenarbeit ist kein „Nice to Have“, das man in Krisenzeiten zuerst kürzt. Sie ist Friedens-, Klima- und Sicherheitspolitik. In einer Welt, in der wir immer mehr Kriege, Konflikte und Angriffe auf die Demokratie erleben, in der Hungersnöte und Armut Lebensperspektiven zerstören und die Folgen der Klimakrise immer spürbarer werden, wäre ein weiterer Rückzug aus internationaler Verantwortung fatal – gerade angesichts des Kahlschlags, den die USA unter Trump in diesem Bereich gerade vollziehen. Deutschland hat sich aus guten Gründen verpflichtet, 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens für Entwicklungszusammenarbeit bereitzustellen; dieses Versprechen dürfen wir nicht einfach brechen.
Zwischen Geopolitik und demokratischer Haltung

Ich setze mich deshalb dafür ein, Entwicklungszusammenarbeit konsequent auf globale Gerechtigkeit, Klimaschutz und Krisenprävention auszurichten, statt sie zum Steinbruch für Sparhaushalte oder migrationspolitische Abschottungsdeals zu machen.
Es geht darum, internationale Partnerschaften wirklich partnerschaftlich statt paternalistisch zu denken – und die demokratische Zivilgesellschaft weltweit zu stärken, gerade jetzt, wo antidemokratische Kräfte rund um den Globus erstarken. Wir dürfen autoritären Akteuren nicht die Lücken überlassen, die entstehen, wenn wir uns zurückziehen.
Eine starke Entwicklungspolitik ist feministisch, menschenrechtsbasiert und dekolonial. Sie schützt die universelle Menschenwürde und das Recht auf Entwicklung: Kein Kind sollte hungern, jedes Kind verdient Zugang zu Bildung, Chancen, Teilhabe und eine gute Zukunft. Dafür braucht es unter anderem verlässliche und gerechte Klimafinanzierung; denn diejenigen, die die Klimakrise nicht verursacht haben, sind heute schon am stärksten von Dürren, Überschwemmungen und Ernteverlusten betroffen. Und es braucht starke multilaterale Strukturen – damit wir global handlungsfähig bleiben und niemand mit den Folgen von Krisen allein gelassen wird.
Wirtschaft: Bisherige Abkommen “haben kaum positive Effekte erzielt”
FOKUS AFRIKA: Sie haben durch einen Fraktionsantrag im Bundestag bereits angedeutet, dass Sie die Freihandelsabkommen mit afrikanischen Regionen stärker an soziale und klimapolitische Auflagen knüpfen wollen. Befürchten Sie nicht, dass eine weitere Verschärfung solcher Bedingungen die wirtschaftliche Entwicklung afrikanischer Staaten bremsen könnte?

Claudia Roth: Nein – im Gegenteil. Es geht uns nicht darum, die wirtschaftliche Entwicklung afrikanischer Staaten auszubremsen, sie zu belehren oder ihnen neue Hürden aufzulegen. Es geht darum, veraltete Abkommen kritisch zu hinterfragen, damit Handelsabkommen das leisten, was sie versprechen: Lokale Wertschöpfung, gute Arbeit vor Ort, einen Ausgleich für historische Ungerechtigkeiten und Fortschritte bei gemeinsamen Interessen wie des Schutzes unseres Planeten.
Die Wirtschaftspartnerschaftsabkommen, auf die sich unser Antrag bezieht, sind zum Teil über 15 Jahre alt und haben vielerorts kaum positive Effekte erzielt. Sie verhindern im Gegenteil zu oft die regionale Integration einer gesamtafrikanischen Freihandelszone, sichern vor allem europäischen Marktzugang und lassen genau das zu kurz kommen, was die Partnerstaaten zu Recht einfordern: Investitionen, Industrialisierung, Technologietransfer und die Möglichkeit, nachhaltig eigene Wertschöpfungsketten aufzubauen.
Wertschöpfung muss in Afrika stattfinden
Wenn wir die Abkommen kritisieren, dann gerade, um Ausbeutung und einseitigen Rohstoffexport zu überwinden. Es darf nicht sein, dass afrikanische Partner weiterhin nur Rohstoffe liefern, während die eigentliche Wertschöpfung anderswo passiert. Handel muss Jobs schaffen, Perspektiven eröffnen und Ernährungssouveränität stärken – und er muss im Einklang stehen mit Klima-, Umwelt- und Menschenrechtsstandards, die inzwischen internationaler Mindestkonsens sind und die vor allem langfristig uns allen zugute kommen.
Wir wollen Handel ermöglichen, aber Handel auf der Höhe der Zeit und mit Blick in die Zukunft. Verlässliche Regeln, transparente Monitoring-Systeme und starke multilaterale Strukturen schützen am Ende alle Seiten. Moderne, faire und partnerschaftliche Abkommen sind ein Weg zu echter wirtschaftlicher Entwicklung, nicht deren Bremse.
Claudia Roth: “Unsere Partner im Maghreb sind die Menschen”
FOKUS AFRIKA: Sie sind außerdem Vorsitzende der Parlamentariergruppe Maghreb. Wie ist Ihre grundsätzliche Einschätzung der Region? Und wie bewerten Sie die Beziehungen zwischen den einzelnen Maghreb-Staaten und Deutschland?
Claudia Roth: Der Maghreb bedeutet für uns weit mehr eine geographische Nachbarschaft. Millionen Menschen in Deutschland und Europa haben familiäre, kulturelle und biografische Wurzeln in Algerien, Libyen, Marokko, Mauretanien oder Tunesien. Wir tragen Verantwortung – auch vor dem Hintergrund Europas kolonialen Unrechts und bis heute fortwirkender Ungleichheiten. Deshalb ist es mir wichtig, dass unsere Arbeit in der Parlamentariergruppe von echter Partnerschaft geprägt ist: zuzuhören, voneinander zu lernen und mit denjenigen zusammenzuarbeiten, die in den Ländern des Maghreb für soziale Gerechtigkeit, Menschen- und Grundrechte und ein gutes Leben für alle eintreten.
Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Menschenrechte gehen nur gemeinsam

Die Region ist politisch sehr unterschiedlich geprägt, aber wir sehen ganz viel von starken, kreativen und widerständigen Zivilgesellschaften – und zugleich erleben wir, wie genau sie unter Druck geraten. In Tunesien werden demokratische Errungenschaften zurückgedrängt, Journalist*innen, Gewerkschaften und Aktivist*innen bedroht. In Algerien ist der politische Raum massiv verengt, in Libyen zerstören Gewalt und Machtkämpfe die Grundlagen eines funktionierenden Staates.
Und mit Marokko haben wir enge wirtschaftliche Beziehungen, wir sehen aber auch dort soziale Spannungen und – mit den Gen-Z-Protesten – eine junge Generation, die mutig für mehr Chancengleichheit, bessere Schulen und moderne Krankenhäuser eintritt.
Für mich ist klar: Unsere engsten Partner*innen sind die Menschen in diesen Ländern – Künstler*innen, Gewerkschaften, Frauenrechtsinitiativen, junge Aktivist*innen, all jene, die für Demokratie, Freiheit und Menschenwürde stehen. Außenpolitik muss diese Kräfte stärken. Gerade migrationspolitische Abkommen wie das zwischen EU und Tunesien dürfen nicht dazu führen, dass Repressionen legitimiert oder Menschenrechte ausgehebelt werden. Kooperation braucht klare Haltung: Ja zur Zusammenarbeit, ja zu starken wirtschaftlichen Partnerschaften – aber nicht um den Preis von Freiheits- und Menschenrechten.
Roth: “Deutschland ist stark, wenn wir klare Positionen haben.”

FOKUS AFRIKA: Der UN-Sicherheitsrat hat kürzlich in beiden nordafrikanischen Friedensmissionen – UNSMIL und MINURSO – wegweisende Entscheidungen getroffen. Bei UNSMIL soll der wirtschaftliche Beitrag und der politische Dialog verstärkt werden, ein Prozess, der mit der Berliner Konferenz begonnen hatte.
In der Resolution 2797 zur Mandatsverlängerung der MINURSO-Mission bezeichnete der Sicherheitsrat den marokkanischen Autonomieplan als einzige Grundlage für eine Verhandlungslösung. Auch Außenministerin Annalena Baerbock gehörte zu den ersten europäischen Stimmen, die diesen Plan unterstützt haben. Wie bewerten Sie diese Entwicklungen – und ist das nicht ein Signal, dass Deutschland häufiger eigenständig Initiative ergreifen sollte, um Konfliktherde zu entschärfen?
Claudia Roth: Die Entscheidungen des Sicherheitsrats zur Verlängerung der Mandate von UNSMIL und MINURSO zeigen vor allem, wie unverzichtbar eine starke multilaterale Ordnung ist. In beiden Fällen gilt: Fortschritt entsteht dort, wo die internationale Gemeinschaft Verantwortung teilt und gemeinsam handelt.
Für Deutschland heißt das: Wir sind immer dann stark, wenn wir klare Positionen haben und sie im Verbund mit unseren Partnern vertreten. Das hat Annalena Baerbock in ihrer Amtszeit eindrücklich gezeigt – ob beim Libyen-Prozess oder in der Haltung zur Westsahara. Eine klare, wertegeleitete und engagierte Außenpolitik schafft überhaupt erst den Raum, diplomatisch wirksam zu werden.
Deutschland darf keine “Alleingänge” unternehmen
Die Vorstellung, Deutschland solle „eigenständig“ Konflikte lösen, greift deshalb zu kurz. UN-Missionen tragen internationale Mandate; sie leben vom Konsens, vom Dialog, von der Zusammenarbeit. Was es braucht, ist nicht nationale Solopolitik, sondern verlässliche Diplomatie, ein starkes Engagement in den Vereinten Nationen und die Bereitschaft, Verantwortung zu teilen.
Wo Deutschland Haltung zeigt und zugleich eng mit internationalen Partnern arbeitet, können wir Konfliktlösung tatsächlich mitgestalten. Darum geht es: klare, verantwortungsvolle, multilaterale Außenpolitik – nicht Alleingänge.
Roth zum Fall Sansal: “Kulturpolitik ist auch Menschenrechtspolitik”

FOKUS AFRIKA: Frau Roth, der algerische Schriftsteller Boualem Sansal wurde auf Bitte von Bundespräsident Steinmeier freigelassen und befindet sich nun in Berlin. Wie ordnen Sie als ehemalige Staatsministerin für Kultur und Medien die Hintergründe dieser Freilassung ein?
Claudia Roth: Die Freilassung von Boualem Sansal durch Algerien auf Bitten von Bundespräsident Frank‑Walter Steinmeier ist ein wichtiges Zeichen, nicht nur für einen wichtigen Schriftsteller, sondern für die universelle Bedeutung von Meinungs- und Kunstfreiheit. Seine literarische Stimme war und ist ein kritisches Echo auf autokratische Tendenzen, denn Autokraten fürchten Bücher. Dass Deutschland und Europa hier interveniert haben, macht deutlich: Kulturpolitik ist auch Menschenrechtspolitik. Ich freue mich persönlich sehr über seine Freilassung und wünsche Boualem Sansal und seiner Familie nach dieser Schreckenszeit von Herzen alles Gute.
Wir dürfen uns nun aber nicht zurücklehnen, denn die Freiheiten, die sich Autor*innen über Jahrhunderte erkämpft haben, sind weltweit in Gefahr. Deshalb gilt es nun, den Fall von Boualem Sansal zum Ausgangspunkt zu machen für stärkeren Schutz von gefährdeten Kulturschaffenden, für Solidarität mit verfolgten Autorinnen und Autoren und für eine Kulturpolitik, die Demokratie- und Freiheitsrechte schützt.