Algeriens Außenpolitik zwischen Sahelkrisen, Migration und globaler Neuordnung

Algerien positioniert sich im Kontext regionaler Konflikte, globaler Machtverschiebungen und eigener Reformen als sicherheitspolitischer und diplomatischer Akteur im weiteren Mittelmeerraum und in der Sahelzone. Bei einer Veranstaltung des nordafrikanischen Programms des Stimson Center in Washington skizzierte Algeriens Botschafter in den USA, Sabri Boukadoum, Grundlinien dieses außenpolitischen Selbstverständnisses. Im Mittelpunkt standen die Rolle Algeriens in Mali, Niger und Libyen, die Auseinandersetzung um die Westsahara, der Umgang mit irregulärer Migration sowie die Beziehungen zu den USA, Europa, China und Russland.

Algerien im Sicherheitsrat und als regionaler Vermittler

Algerien ist für die Jahre 2024 und 2025 als nichtständiges Mitglied in den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen gewählt. Boukadoum ordnete dies in eine längere Tradition internationaler Diplomatie ein, die von der Vermittlung im malischen Friedensprozess 2015 bis zu Angeboten in der Niger-Krise reicht. Die Mitgliedschaft im Sicherheitsrat versteht er als Fortsetzung einer außenpolitischen Linie, die auf Mediation, Ablehnung ausländischer Militärpräsenz in der unmittelbaren Nachbarschaft und Betonung afrikanischer Verantwortung setzt.

Die Sahara und die Sahelzone beschrieb er als historisch, kulturell und sozial eng verflochtene Räume. Nordmali sei aus algerischer Perspektive eine „Verlängerung“ Algeriens, während Südalgerien für viele Menschen in Mali in ähnlicher Weise Referenzraum sei. In Grenzdörfern lebten Familien und Stämme beiderseits der Staatsgrenzen, die durch moderne Linien geografisch getrennt, gesellschaftlich aber eng verbunden seien. Vor diesem Hintergrund begründet Algerien seinen Anspruch, sich in Mali und in der Sahelzone sicherheitspolitisch und diplomatisch zu engagieren.

Sahelzone, Staatsfragilität und Ablehnung ausländischer Basen

Boukadoum schilderte Nordmali als Region, in der es über Jahre an staatlicher Präsenz in Form von Polizei, Schulen und Gesundheitsdiensten gefehlt habe. In diesem Umfeld träfen lokale Konflikte, wirtschaftliche Perspektivlosigkeit, organisierte Kriminalität und ausländische Einflussnahme aufeinander.

Algeriens Position zu ausländischen Truppen in der Region formulierte er klar. Das Land lehne ausländische Militärbasen in der unmittelbaren Nachbarschaft ab. Fragen von Terrorismus, Schmuggel und Grenzsicherheit seien nach dieser Lesart zunächst Aufgabe der Anrainerstaaten und regionaler Organisationen. Internationale Akteure sollten mit den betroffenen Ländern und nicht an ihnen vorbei agieren.

Irreguläre Migration, Mittelmeerraum und Verantwortung Europas

Ein Schwerpunkt des Gesprächs war die irreguläre Migration in Richtung Europa. Boukadoum verwies darauf, dass Migrantinnen und Migranten nicht nur aus der Sahelzone und Westafrika stammten. Es gebe auch Herkunftsregionen in Ostafrika und Asien. Algerien sei für viele nicht Zielstaat, sondern Transitland.

Aus Sicht des Botschafters kann eine rein sicherheitspolitische Antwort auf die Migrationsbewegungen nicht ausreichen. Er verwies auf die geographische Nähe: Inseln im Mittelmeer seien von nordafrikanischen Küsten in wenigen Stunden mit kleinen Booten erreichbar. Grenzzäune oder rechtliche Verschärfungen allein könnten diese Dynamik nicht stoppen.

Boukadoum stellte die Erwartung infrage, nordafrikanische Staaten sollten als „Polizei Europas“ agieren. Er verwies auf lange Landgrenzen in der Sahara und auf Küstenabschnitte, deren vollständige Überwachung kaum möglich sei. Aus algerischer Perspektive müsse Europa stärker an der Bearbeitung der Konflikte und ökonomischen Krisen in Herkunfts- und Transitländern mitwirken. Krisen wie in Sudan, Niger, Mali und Libyen hätten unmittelbare Folgen für Flucht- und Migrationsbewegungen.

Westsahara, Selbstbestimmung und Verhältnis zu Marokko

Die Auseinandersetzung um die Westsahara und das Verhältnis zu Marokko wurden offen angesprochen. Boukadoum bezeichnete die Westsahara-Frage als Dekolonisierungsthema, das in den Vereinten Nationen als solches geführt werde. Kernpunkt der algerischen Position sei das Recht auf Selbstbestimmung der Bevölkerung der Westsahara.

Algerien betrachte sich nicht als Vertreter der Sahrauis, sondern als Unterstützer eines unter UN-Schirmherrschaft laufenden Prozesses. Die betroffenen Menschen müssten selbst entscheiden, welche Lösung sie akzeptierten. Vorschläge wie ein marokkanischer Autonomieplan könnten nur als Option im Rahmen von Verhandlungen gesehen werden, nicht als vorweggenommene Endlösung.

Boukadoum verwies auf die seit Jahrzehnten in Lagern im Südwesten Algeriens lebenden Flüchtlinge und auf einen Rückgang internationaler Hilfe. Eine dauerhafte Zwischenposition ohne politische Lösung stelle aus algerischer Sicht keine tragfähige Perspektive dar.

Beziehungen zu den USA: Energie, Sicherheit und Technologie

Die Beziehungen zu den Vereinigten Staaten beschrieb Boukadoum als historisch gewachsen und gegenwärtig ausbaufähig. Er erinnerte an frühe Verträge mit den USA im 18. und 19. Jahrhundert und an algerische Unterstützung auf Seiten der Alliierten im Zweiten Weltkrieg. Heute reichen die Themenfelder von Energie über Landwirtschaft bis hin zu Verteidigungs- und Sicherheitspolitik.

Wie die Veranstaltung des Stimson Center verdeutlichte, sehen algerische Entscheidungsträger Chancen in gemeinsamen Projekten zu Energie, Infrastruktur und neuen Technologien. Algerien ist ein etablierter Gaslieferant für Europa und bemüht sich zugleich, die eigene Wirtschaft zu diversifizieren. US-Unternehmen sind bereits im Land aktiv, weitere Investitionen etwa in der Landwirtschaft und im Energiesektor werden ins Auge gefasst.

Sicherheitspolitisch nutzt Algerien den Dialog mit den USA für Austausch zu Terrorismus, Grenzsicherheit und Entwicklungen im Sahel. Eine vertiefte Verteidigungszusammenarbeit bildet den Rahmen für erweiterte militärische Kooperation, ohne die Grundlinie der Nichtblockzugehörigkeit aufzugeben.

China, Russland und die Tradition der Blockfreiheit

Parallel dazu pflegt Algerien enge Beziehungen zu China und Russland. Boukadoum verwies auf chinesische Unterstützung während des antikolonialen Kampfes und auf Algeriens Rolle bei der Rückkehr Chinas in die Vereinten Nationen Anfang der 1970er Jahre. Heute ist China ein wichtiger wirtschaftlicher Partner in Infrastruktur und Handel.

Bezogen auf Russland betonte Boukadoum, dass Algerien seine außenpolitischen Entscheidungen an den eigenen Interessen ausrichte. Das Land versteht sich als blockfrei und nicht an einzelne Großmächte gebunden. In der Sahelzone lehnt Algerien ausländische Militärbasen ab. Entsprechende Engagements anderer Akteure betrachtet es, insbesondere in fragilen Staaten, mit Skepsis.

Historische Lasten und Verhältnis zu Europa

Im Verhältnis zu Europa bilden koloniale Erfahrungen und Migrationsfragen wichtige Bezugspunkte. Boukadoum bezeichnete Algerien als „junges unabhängiges Land“ mit einer langen Kolonialgeschichte, die bis heute in der politischen Kultur wirke. Das Verhältnis zu Frankreich sei von der Gewalt des Unabhängigkeitskrieges und von Debatten um Deutungshoheit über die Vergangenheit geprägt.

Gleichzeitig verwies der Botschafter auf die enge geografische und wirtschaftliche Verflechtung mit europäischen Nachbarn. Energieversorgung, Handel, Migration und Sicherheit im Mittelmeerraum stellten gemeinsame Themen dar. Algerien fordert in diesen Feldern eine Zusammenarbeit, die auf gegenseitigem Respekt, Anerkennung historischer Realitäten und einer stärker geteilten Verantwortung in der Sahelzone basiert.

Digitalisierung, Datenzentren und außenpolitische Dimension

Zum Abschluss des Gesprächs verwies Boukadoum auf die digitale Transformation als innen- und außenpolitisches Querschnittsthema. Algerien baut eine nationale Infrastruktur für Künstliche Intelligenz auf und verfügt über eine spezialisierte Hochschule, die Fachkräfte für diesen Bereich ausbildet.

Nach Angaben des Botschafters werden Möglichkeiten geprüft, Rechenzentren in der Sahara anzusiedeln. Verknüpft werden dabei große verfügbare Flächen, Energiepotenziale und Glasfaseranbindungen nach Europa. Diese Projekte liegen an der Schnittstelle von Technologiepolitik, Energiepolitik und außenwirtschaftlicher Strategie und fügen sich in das Bild eines Landes ein, das seine geografische Lage und seine Ressourcen in einer sich verändernden globalen Ordnung neu definiert.

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