Der Maghreb steckt in einer Phase höchster Dynamik: Egal, ob in Algerien, Tunesien oder Marokko – Protestbewegungen, Autoritarismus, Wirtschafts- und soziale Krisen, Fragen der Souveränität und geopolitische Umbrüche prägen die öffentliche Debatte. Für Deutschland und die EU könnte diese Region zunehmend zu einem Schwerpunkt strategischer Interessen werden – sei es in den Bereichen Energie, Migration, Sicherheit oder politische Einflussnahme.
Als versierter Beobachter dieser Region, insbesondere Nordafrikas und des Nahen Ostens, bringt Abderrahmane Ammar profunde Einsichten und Erfahrungen ein. Er arbeitet als Journalist u. a. für die Deutsche Welle und beschäftigt sich intensiv mit politischen, sozialen und medienbezogenen Fragen der MENA-Region.
Warum spielt der Maghreb noch keine Top-Priorität im Auswärtigen Amt?
FOKUS AFRIKA: “Im Maghreb beobachten wir derzeit so viele dynamische Entwicklungen wie seit Jahren nicht mehr. In Berlin scheint dies – insbesondere in den Leitungsebenen der Ministerien – jedoch (noch) keine absolute Priorität zu besitzen. Warum sollte das Auswärtige Amt den Maghreb aus Ihrer Sicht dringend höher gewichten?”
Abderrahmane Ammar: “Die Maghreb-Region verfügt über erhebliche Potenziale. Die Region ist ein wichtiger Markt für deutsche Produkte, sie bietet mögliche Energieressourcen – wie sauberen Wasserstoff in Marokko und Algerien – und stellt eine bedeutende Quelle für Gas und Rohstoffe dar, wie etwa marokkanischen Kobalt. Zusätzlich ist die Region zentral für sicherheitspolitische Kooperationen und für gemeinsame Strategien in der Bekämpfung irregulärer Migration. Würde Deutschland diese Region vernachlässigen, würde man sie anderen globalen Akteuren überlassen – etwa den Vereinigten Staaten, China, Russland oder der Türkei.”
Fokus auf Tunesien: Wohin führt Präsident Kaïs Saïed Tunesien?
FOKUS AFRIKA: “Präsident Kaïs Saïed hat eine breite Protestwelle politisch überstanden, ohne die strukturellen Probleme des Landes grundlegend zu lösen. Welche strategischen Schritte haben ihm diese Konsolidierung ermöglicht?”
Abderrahmane Ammar: “Obwohl viele Tunesier mit Saïeds Machtkonzentration unzufrieden sind – etwa durch die Entmachtung des Parlaments, den harten Umgang mit der Opposition und die Verhaftung zahlreicher Gegner – fehlen derzeit Bewegungen, die seiner Herrschaft vergleichbar widerstehen wie 2011. Nach dem Sturz von Ben Ali führten die Islamisten, die an die Macht kamen, das Land nicht aus seinen sozialen und wirtschaftlichen Problemen heraus. Heute sind zahlreiche Akteure des alten Regimes zurückgekehrt und fungieren in Saïeds Umfeld. Sicherheitsstrukturen wie Geheimdienste und das Militär haben an Einfluss zurückgewonnen. Er profitiert zudem von der Unterstützung Algeriens, das wenig Interesse an demokratischen Nachbarn hat, und nutzt die instabile Lage in Libyen, um die Bevölkerung vor Machtwechseln zu warnen. Auf diese Weise kehrt Tunesien de facto wieder zu autokratischen Strukturen zurück.”
Tunisia Court Sentences Citizen to Death for Facebook Posts Criticizing President Kais Saied
— ME24 – Middle East 24 (@MiddleEast_24) October 3, 2025
A court in Tunisia has sentenced a citizen to death over Facebook posts critical of President Kais Saied. pic.twitter.com/WbNuAnvL3p
Abderrahmane Ammar: “Das Regime Saïed wird scheitern”
FOKUS AFRIKA: “Einerseits vertieft Tunis die Zusammenarbeit mit der EU (unter anderem durch das im Juli 2025 geschlossene Abkommen über 100 Millionen Euro), andererseits wächst die Abhängigkeit zum Nachbarstaat Algerien – Kritiker warnen, dies gefährde die tunesische Souveränität. In welche mittelfristige Lage manövriert sich Tunesien unter Präsident Saïed außen- und innenpolitisch?”

Abderrahmane Ammar: “Tunesien steuert auf eine strategische Sackgasse zu. Die wirtschaftliche und soziale Lage bleibt schwerwiegend – die vom Internationalen Währungsfonds geforderten Reformen sind weitgehend ungelöst. Das Regime Saïeds wird früher oder später scheitern. Aber Alternativen erscheinen kaum überzeugend, denn es fehlt eine klare, realistische wirtschaftliche Vision, die breite Unterstützung findet.”
Fokus auf Algerien: Was passiert in Algerien?
FOKUS AFRIKA: “Die mutmaßliche Flucht des algerischen Geheimdienstchefs nach Spanien sorgt für Schlagzeilen. Was lässt dieses Ereignis über die innere Verfasstheit des Staates und die Balance zwischen Präsidialmacht, Militär und Diensten erkennen?”
Abderrahmane Ammar: “Dass ein hoher Geheimdienstoffizier im Exil Schutz sucht – im Boot wie ein irregulärer Migrant –, ist ein Symbol für tiefe Risse innerhalb der Sicherheitsstrukturen. Seit dem Ende der Bouteflika-Ära bestehen Flügelkämpfe zwischen Militär und Geheimdiensten, es gibt zahlreiche Fälle von inneren Abrechnungen. Berichte nennen Verantwortliche, die im Gefängnis sitzen oder ausgeschaltet wurden. Solche Fluchten sind also keine Einzelfälle, sondern Hinweise auf Schwächen und Konflikte in der Machtarchitektur. Sollte der Geflüchtete im Exil zum Regimegegner werden und geheimdienstliche Informationen veröffentlichen, könnte das die Herrschaft empfindlich erschüttern.”
Trotz Sitz im UN-Sicherheitsrat: Warum bleibt Algerien diplomatisch so isoliert?

FOKUS AFRIKA: Trotz des Sitzes im Sicherheitsrat wirkt Algerien außenpolitisch isoliert: tiefe Spannungen mit Frankreich, Vorwürfe der Unterstützung bewaffneter Gruppen in der Sahel-Region, die ausgebliebene BRICS-Aufnahme und anhaltende Blockaden im Westsahara-Dossier. Warum gelingt es der algerischen Diplomatie nicht, aus der Ratsmitgliedschaft politisches Kapital zu schlagen?
Abderrahmane Ammar: “In Algerien herrscht das Militär, nicht die zivile Regierung. Innere Konflikte werden oft inszeniert, um die Bedeutung der Armee nach innen zu stärken – ein politisches Muster seit der Unabhängigkeit. Obwohl Algerien wirtschaftliche Partnerschaften mit Russland, China, europäischen Staaten und den USA pflegt, gilt seine Innenpolitik als sprunghaft und unberechenbar. Abgesehen von Tunesien hat Algerien Spannungen mit nahezu allen Nachbarstaaten. In der Westsahara-Frage hat Marokko große diplomatische Schritte gemacht: viele Staaten anerkennen bereits die marokkanische Souveränität und unterstützen den Autonomieplan, darunter einige ständige Mitglieder des Sicherheitsrats. Algerien beharrt darauf, keine Konfliktpartei zu sein, weigert sich aber, die Flüchtlinge in Tindouf zu registrieren, und unterstützt die Polisario finanziell und militärisch – wodurch seine Neutralität schwer glaubhaft wird.”
FOKUS auf Marokko: Gibt es ein Marokko der “zwei Geschwindigkeiten”?
FOKUS AFRIKA: “In Marokko formiert sich die online getragene Jugendbewegung „GenZ212“, die kritisiert, Investitionen – insbesondere im Zusammenhang mit der WM 2030 – und makroökonomisches Wachstum kämen bei jungen Menschen nicht an. Was kennzeichnet diese Bewegung, ihre Forderungen und ihre Organisationsform?”

Abderrahmane Ammar: “Bereits beim Arabischen Frühling 2011 engagierten sich viele junge Marokkaner – was den König dazu brachte, Verfassungsreformen anzustoßen: stärkere Kompetenzen für den Regierungchef, Anerkennung der Amazigh-Identität und der jüdischen Minderheit. Heute greift die Jugendbewegung Generation Z jene Themen wieder auf: bessere Leistungen im Bildungs- und Gesundheitsbereich, mehr Arbeitsplätze und Teilhabe. Dabei haben die Demonstranten einen starken Verbündeten: Der König kritisiert diese Defizite und warnt vor einem Marokko der „zwei Geschwindigkeiten“ – Fortschritt hier, Krise in Gesundheit und Bildung dort. Die Bewegung selbst ist parteiungebunden, wenngleich Oppositionsparteien – einschließlich islamistischer Gruppen – versuchen, sie politisch zu instrumentalisieren. Eine friedliche Protestkultur und die organisatorische Flexibilität im digitalen Raum gelten vielen als bedeutsam für die demokratische Entwicklung des Landes.”
Könnten die Proteste weitere außenpolitische Ambitionen gefährden?
FOKUS AFRIKA: “Könnten die aktuellen gesellschaftlichen Spannungen in Marokko außenpolitische Konsequenzen entfalten? Das Königreich ist diplomatisch stark positioniert; mit Blick auf eine mögliche Reform des UN-Sicherheitsrats wird mitunter über einen ständigen afrikanischen Sitz für Marokko spekuliert. Wie realistisch sind solche Überlegungen – und wovon hinge ihre Tragfähigkeit ab?”
Abderrahmane Ammar: “Marokko konnte 2011 politische Spannungen durch Dialog und moderate Reformen bewältigen, ohne die Monarchie infrage zu stellen – im Unterschied zu republikanischen Systemen wie Tunesien oder Ägypten. Die Tatsache, dass friedliche Proteste nicht repressiv niedergeschlagen wurden und dass Diskurs möglich war, spricht für eine gewisse Stabilität. Im Hinblick auf den UN-Sicherheitsrat konkurrieren derzeit Marokko und Südafrika um einen möglichen ständigen Sitz für Afrika. In Bezug auf internationale Unterstützung – sowohl in Afrika als auch bei westlichen Partnern – hätte Marokko gute Chancen, vorausgesetzt, es gelingt ihm, politische, wirtschaftliche und institutionelle Glaubwürdigkeit zu demonstrieren.”