UN-Mitgliedstaaten drängen auf echte Reform des Sicherheitsrats – Afrika und Veto im Fokus

Die Generalversammlung der Vereinten Nationen hat in einer Ganztagsdebatte die Reform des Sicherheitsrats erneut auf die Agenda gesetzt. Hintergrund ist ein massiver Vertrauensverlust in die Handlungsfähigkeit des Rates, der Kriege, Massengräuel und neue Bedrohungen wie Klimarisiken und digitale Desinformation häufig nicht verhindert oder eingedämmt hat.

UN-Generalversammlungspräsidentin Annalena Baerbock bezeichnete die laufende 80. Sitzungsperiode als „Moment der Reflexion, des Handelns und der Führung“, um die Vereinten Nationen an die Realität des 21. Jahrhunderts anzupassen. Mit der UN80-Reforminitiative und dem im „Pakt für die Zukunft“ verankerten Reformauftrag soll der Sicherheitsrat inklusiver, transparenter, effizienter, demokratischer und rechenschaftspflichtiger werden.

Kernpunkte der Debatte: Repräsentation, Legitimität, Handlungsfähigkeit

Rund 60 Delegationen unterstrichen, dass der Rat in seiner Grundstruktur noch immer die Nachkriegsordnung nach 1945 widerspiegelt, während Bedrohungen und Machtverhältnisse sich deutlich verändert haben.

Für die G4-Staaten Brasilien, Deutschland, Indien und Japan ist die Reform „kein Luxus, sondern eine Notwendigkeit“. Sie argumentieren, dass das schlechte Image der UN maßgeblich mit der Blockade im Sicherheitsrat verknüpft ist und nur eine Erweiterung in beiden Kategorien – ständige und nicht ständige Sitze – reale Abhilfe schaffen kann.

Das L.69-Bündnis, ein Zusammenschluss reformorientierter Entwicklungs- und Schwellenländer, spricht von einem „moralischen und politischen Imperativ“, unterrepräsentierten Regionen mehr Gewicht zu geben. Ohne sichtbare Fortschritte drohe das System in einem „freien Fall des Vertrauens“ weiter abzusinken.

Afrika im Zentrum: Historisches Unrecht und Common African Position

Besonders deutlich fiel der Fokus auf Afrika aus. Sierra Leone sprach im Namen der Afrikanischen Gruppe von einer „historischen Ungerechtigkeit“, da über 70 Prozent der vom Sicherheitsrat behandelten Dossiers Afrika betreffen, der Kontinent aber keinen ständigen Sitz innehat.

Die Afrikanische Gruppe bekräftigte die Common African Position nach Ezulwini-Konsens und Sirte-Erklärung. Gefordert werden mindestens zwei ständige Sitze mit allen Rechten, einschließlich Veto, falls dieses Instrument bestehen bleibt, sowie fünf zusätzliche nicht ständige Sitze für Afrika.

Algerien und andere afrikanische Staaten betonten, dass eine breitere geografische Diversität die Ursachen von Konflikten – etwa im Sahel oder im Nahen Osten – besser erfassen und damit wirksamere Lösungen ermöglichen würde.

Venezuela erinnerte im Namen der „Group of Friends in Defense of the UN Charter“ daran, dass mehr als ein Viertel der UN-Mitgliedschaft afrikanisch ist, während der Rat in seiner Zusammensetzung weiterhin stark westlich dominiert sei.

Veto unter Druck: Von „verantwortungsvoller Nutzung“ bis „Veto muss weg“

Mehrere Staaten stellten das Veto der fünf ständigen Mitglieder in den Mittelpunkt. Frankreich warb für eine „verantwortungsvolle“ Nutzung und verwies auf die gemeinsam mit Mexiko vorgeschlagene Einschränkung des Vetos bei Massenverbrechen. Italien und die Uniting-for-Consensus-Gruppe gehen weiter und lehnen jede Ausweitung des Vetos ab. Im Minimum solle der Einsatz bei Völkermord, Kriegsverbrechen und schweren Menschenrechtsverletzungen eingeschränkt werden.

Noch grundsätzlicher argumentierten kleinere Staaten. Die Malediven bezeichneten das Veto als „strukturelles Hindernis“, das Krisen in Lähmung verwandle, und forderten seine vollständige Abschaffung.

Demgegenüber warnte Russland vor einer Schwächung der Rechte der ständigen Mitglieder. Ohne Veto hätten die Vereinten Nationen „dasselbe Schicksal wie der Völkerbund“ erlitten. Moskau plädiert für ein kompaktes Gremium mit mehr Entwicklungsländern aus Afrika, Asien und Lateinamerika, jedoch ohne Änderung der Privilegien der P5.

Modellvielfalt: G4, Uniting for Consensus, SIDS-Sitz, arabische und regionale Forderungen

Die Debatte zeigte erneut konkurrierende Reformmodelle:

  • G4-Modell: Erweiterung um neue ständige und nicht ständige Sitze, insbesondere für Afrika, Asien-Pazifik und Lateinamerika.
  • Uniting-for-Consensus-Ansatz (unter anderem Italien, Türkei): Keine neuen ständigen Sitze, dafür mehr rotierende nicht ständige Mandate und regionale Rotations- oder Gruppenlösungen.
  • Afrikanische Position: Mindestens zwei ständige und fünf nicht ständige zusätzliche Sitze für Afrika.
  • Arabische Gruppe: Bahrain forderte mindestens einen ständigen Sitz für die arabischen Staaten, da ein Großteil der Veto-Fälle und der Ratsagenda die Region betreffe.
  • Kleine Inselstaaten: Die Malediven warben für einen eigenen rotierenden Sitz für Small Island Developing States (SIDS), die trotz hoher Verwundbarkeit gegenüber Klima- und Sicherheitsrisiken im Rat nicht systematisch vertreten sind.
  • Costa Rica und andere: Sie kritisieren zusätzliche ständige Sitze als „mehr Blockade, getarnt als mehr Balance“ und wollen ausschließlich die Gruppe der gewählten Mitglieder ausbauen.

Verfahren: Stillstand im IGN-Format, Druck für textbasierte Verhandlungen

Neben inhaltlichen Fragen war das Verfahren der Reform selbst ein Streitpunkt. Mehrere Delegationen – darunter Indien, Indonesien und die nordischen Staaten – kritisierten die Intergouvernementalen Verhandlungen (IGN) als Karussell, das seit Jahren diskutiere, ohne konkrete Texte, Fristen oder Beschlüsse hervorzubringen.

Indien sprach von einem „Theater des Absurden“, in dem der Konsensbegriff faktisch als Vetoinstrument genutzt werde, um jede Bewegung zu blockieren. Breite Unterstützung fand die Forderung, die Verhandlungen auf eine textbasierte Grundlage zu stellen, mit klaren Optionen, Zeitplänen und Meilensteinen.

Generalsversammlungspräsidentin Baerbock rief die Mitgliedstaaten auf, bestehende Modelle zu konkretisieren, neue Vorschläge einzubringen und aus den fünf Verhandlungsklustern – Größe und Zusammensetzung, Arbeitsmethoden, Verhältnis zur Generalversammlung, Kategorien der Mitgliedschaft, Veto und Repräsentation – einen konsolidierten Kompromissansatz zu entwickeln.

Parallele Dynamik: Reformdruck und anstehende Wahl des UN-Generalsekretärs

Die Reformdebatte findet in einer Phase statt, in der die Vereinten Nationen zugleich in den Auswahlprozess für den nächsten Generalsekretär für die Amtszeit 2027 bis 2031 einsteigen. Nach den seit 2015 geltenden Regeln koordinieren die Präsidentin der Generalversammlung und die jeweilige Ratspräsidentschaft den Prozess gemeinsam.

Die Auswahl bleibt eng mit dem Sicherheitsrat verknüpft. Dieser empfiehlt den Kandidaten oder die Kandidatin per Resolution, während die Generalversammlung formal ernennt. Damit ist die geplante Ratsreform nicht nur eine strukturelle Frage, sondern beeinflusst auch die Wahrnehmung, ob die nächste Führungsspitze der UN das Versprechen von Transparenz, Geschlechtergerechtigkeit, regionaler Balance und Unabhängigkeit glaubwürdig verkörpern kann.

Verwandte Beiträge
Total
0
Share