Die wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und Marokko befinden sich in einer Phase der Neujustierung. Verschiedene Entwicklungen aus der Vergangenheit wirken bis heute nach, aktuelle Dynamiken verändern die Zusammenarbeit und neue Potenziale zeichnen sich ab. Insgesamt lassen sich zwei abgelaufene, zwei aktuelle und zwei mögliche Trends erkennen, die den wirtschaftspolitischen Rahmen prägen.
Trends der Vergangenheit
Fachkräfteeinwanderung: Grenzen eines Modells
Die Fachkräfteeinwanderung aus Marokko nach Deutschland stößt zunehmend an strukturelle Grenzen. Programme, die ausbildungswillige Marokkanerinnen und Marokkaner in Berufen des Niedriglohnsektor nach Deutschland bringen, sind mit steigenden Risiken und sichtbaren Misserfolgen verbunden.
Parallel dazu wirken sich der massive Stellenabbau im deutschen Industriesektor und den vielen arbeitslosen Zugewanderten aus Syrien und der Ukraine auf die Aufnahmebereitschaft aus. Die innenpolitische Stimmung ist angespannt, Verschärfungen bei Einbürgerungsvoraussetzungen haben frühere progressive Reformen relativiert. Unter diesen Bedingungen verliert dieses Einwanderungsmodell an politischer und gesellschaftlicher Tragfähigkeit.
Auch deshalb hat der Bundeskanzler diese Woche beim SZ-Wirtschaftsgipfel auf eine Regelung im Koalitionsvertrag verwiesen: Die quasi Verstaatlichung der Fachkräftevermittlung. Dies geschieht durch die Etablierung einer “Work-and-Stay-Agentur“, die private und teilweise dubiose Vermittler durch digitale Prozesse umgeht und gezielter hochqualifizierte Menschen akquirieren wird.
Energie und Wasserstoff: Verpasste Chancen durch unterschiedliche Logiken
Im Energiebereich, insbesondere beim Thema Wasserstoff, ist ein deutlicher Bruch zwischen Erwartungen und tatsächlichen Abläufen erkennbar. Marokko setzte lange primär auf staatliche Abkommen und zeigte Zurückhaltung gegenüber marktwirtschaftlichen Mechanismen. In Deutschland hingegen besteht eine klare Arbeitsteilung: Der Staat schafft frühzeitig regulatorische Sicherheit, während private Unternehmen investieren.
Marokkanische Stellen sendeten widersprüchliche Signale an deutsche Investoren. Statt zügig eigene Vorstudien vorzulegen, wurde ironischerweise viel Energie darauf verwendet, deutsche Fördergelder für Realisierungsstudien einzuwerben – und damit wertvolles Momentum verspielt.

Gleichzeitig setzte die Energieministerin mit einem Zielpreis von drei Euro pro Kilogramm Wasserstoff eine Marke, die deutlich unter den aktuellen Marktpreisen für grünen Wasserstoff von rund acht bis dreizehn Euro liegt. Ambitionierte Ziele sind sinnvoll, doch sie müssen mit realistischen Pfaden und partnerschaftlichen Rahmenbedingungen unterlegt werden – sonst schrecken sie seriöse Investitionen eher ab, als sie anzuziehen.
Aktuelle Entwicklungen zwischen Deutschland und Marokko
Starke Präsenz deutscher Interessen in Marokko: Wo bleibt das Gleichgewicht?
Der Ausbau deutscher Institutionen in Marokko schreitet voran. Neben der AHK und Germany Trade & Invest hat der Bundesverband Mittelstand kürzlich ein Verbindungsbüro in Rabat eröffnet. Damit ist Deutschland institutionell breit vertreten und verfügt über eine stabile operative Infrastruktur.
Während die deutsche Seite ihre Präsenz ausbaut, fehlt auf marokkanischer Seite weiterhin eine langfristig handlungsfähige Repräsentanz in Deutschland. Roadshows, Messeauftritte oder projektbezogene Delegationsreisen schaffen nur punktuelle Sichtbarkeit, erzielen jedoch keine kontinuierliche Wirkung. Dauerhafte Präsenz in Deutschland ist entscheidend, um Vertrauen aufzubauen, Interessen konsistent zu vertreten und komplexe Investitionsprozesse transparent zu begleiten. Sie bildet die Grundlage für ein koordiniertes wirtschaftliches Auftreten.
Nearshoring: Marokko im Wettbewerb um Produktionsstandorte
Der globale Trend zum Nearshoring beeinflusst deutsche Unternehmen spürbar. Hohe Energiepreise, Bürokratie und strukturelle Kosten in der Bundesrepublik lassen Unternehmen nach alternativen Standorten suchen. Marokko bietet eine Kombination aus Logistik, politischer Stabilität und marktnahen Industrieclustern.

Der Hafen Tanger Med fungiert als logistisches Rückgrat, das den Güterverkehr zwischen Europa, Afrika und anderen globalen Märkten zuverlässig verbindet. Ergänzt wird dies durch wettbewerbsfähige Steuersätze, moderne Industrieparks und moderate Lohnkosten.
Durch diese Standortvorteile entsteht ein Umfeld, in dem deutsche Unternehmen zunehmend Produktionsprozesse verlagern oder erweitern. Marokko positioniert sich damit als industrielle Erweiterung des europäischen Wirtschaftsraums und stärkt seine Rolle in globalen Lieferketten.
Zukünftige Dynamiken: Das Potential deutsch-marokkanischer Zusammenarbeit
Rüstungsindustrie: Zwischen Wirtschaftszweig und Nationales Sicherheitsinteresse

Die sicherheitspolitischen Verschiebungen in Europa und der Ukraine-Krieg haben in Deutschland zu einem massiven Ausbau des militärisch-industriellen Komplexes geführt. Gleichzeitig kämpft die deutsche Rüstungsindustrie mit bekannten strukturellen Problemen: hohe Bürokratielasten, Flächenknappheit und steigende Kosten.
Marokko kann hier eine strategische Rolle einnehmen. Die deutsche Verteidigungsindustrie benötigt langfristige Sammelbestellungen, um Produktionsprozesse zu skalieren. Produktions- oder Vertriebsstrukturen in Marokko würden den Zugang zu Märkten in Afrika und Südamerika erleichtern. Beispiele wie die Präsenz des Zulieferers Böllhoff in Casablanca verdeutlichen, dass industrielle Strukturen im sicherheitsrelevanten Bereich implementierbar sind.
In einem globalen Kontext, in dem neue Sicherheitskooperationen entstehen, könnte dieser Sektor zu einem zentralen Feld deutsch-marokkanischer Zusammenarbeit werden. Hier gilt es bald Fakten zu schaffen – auch im Interesse des marokkanischen Sicherheitspolitik.
Investitionen in der marokkanischen Sahara: Neue Räume durch politischen Rückenwind
Die marokkanische Sahara gewinnt für Investitionen an Bedeutung. Bisher waren dort vor allem große deutsche Konzerne vertreten, darunter Siemens Energy und Heidelberg Cement. Diese Projekte markierten eine erste Phase der wirtschaftlichen Öffnung der Region für deutsche Fachkonzerne.

Der jüngste Beschluss des UN-Sicherheitsrats verschafft Marokko zusätzliche politische Argumente, um deutsche Unternehmen, gerade den breit aufgestellten deutschen Mittelstand, zu Investitionen in der Sahara einzuladen.
Für eine Ausweitung dieser Aktivitäten wären verschiedene Flankierungen erforderlich. Dazu gehören staatliche Bürgschaften, eine breitere politische Unterstützung für Projekte in der Region und die Ausweitung konsularischer Dienstleistungen der deutschen Botschaft auf die Sahara.
In der Kombination mit der Königlichen Atlantik-Initiative, die zum Ziel hat den Sahel-Staaten den logistischen Zugang zum Ozean zu ermöglichen, würde die Sahara als Investitionsraum stärker in die bilateralen Wirtschaftsbeziehungen eingebunden werden und könnte eine nach Afrika ausgehende markteröffnende Rolle im Gefüge der deutsch-marokkanischen Kooperation einnehmen.