Offener Brief zu Kolonialismus: Zivilgesellschaft fordert Bund zur Reform der Gedenkpolitik auf

Mehr als 40 Organisationen sowie über 140 Einzelpersonen aus Wissenschaft, Kultur und Zivilgesellschaft fordern den Bund auf, seiner Verantwortung für die Aufarbeitung des deutschen Kolonialismus gerecht zu werden. In einem Offenen Brief kritisieren sie die novellierte Gedenkstättenkonzeption der Bundesregierung, die weiterhin ausschließlich auf NS-Terrorherrschaft und SED-Unrecht fokussiert bleibt. Die Unterzeichnerinnen und Unterzeichner verlangen eine strukturelle und finanzielle Verankerung der Kolonialismus-Erinnerung auf Bundesebene.

Novellierte Gedenkstättenkonzeption ohne Kolonialismus

Am 12. November 2025 beschloss das Bundeskabinett die nach 17 Jahren überarbeitete Gedenkstättenkonzeption des Bundes. Das Konzept regelt seit 1999 die finanzielle Beteiligung des Bundes an Gedenkstätten und Projekten zur Aufarbeitung der NS-Terrorherrschaft sowie der SED-Diktatur. In der nun verabschiedeten Fassung werden punktuelle neue Akzente gesetzt, unter anderem im Bereich Digitalisierung, auch vor dem Hintergrund des Wegfalls von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen des Nationalsozialismus.

Nach Darstellung der Unterzeichner des Offenen Briefes bleibt die Konzeption jedoch inhaltlich weitgehend unverändert. Eine systematische Erweiterung um weitere Felder staatlichen Unrechts, insbesondere den deutschen Kolonialismus, ist nicht vorgesehen. Kolonialismus wird lediglich am Rande im Zusammenhang mit Provenienzforschung zu Sammlungsgut aus kolonialen Kontexten erwähnt. Konkrete Förderinstrumente, Trägerstrukturen oder programmatische Zielsetzungen fehlen.

Kritik aus afrikanischen, asiatischen und Schwarzen Communitys

Organisationen der afrikanischen, asiatischen und Schwarzen Communitys sowie Akteurinnen und Akteure der Kolonialismus-Aufarbeitung begrüßen ausdrücklich die Fortschreibung der Förderung zur Erinnerung an NS- und SED-Unrecht. Zugleich protestieren sie gegen die Entscheidung, Kolonialismus nicht in die Gedenkstättenkonzeption aufzunehmen.

In dem Offenen Brief wird betont, dass Kolonialismus ebenso wie die nationalsozialistische und die SED-Diktatur staatlich verantwortetes Unrecht darstellt. Daraus ergebe sich eine Pflicht des Bundes zur Erinnerung und Aufarbeitung. Diese Verantwortung könne nicht allein den Ländern oder der Zivilgesellschaft überlassen werden.

Kolonialismus als Teil deutscher Gewaltgeschichte

Die Unterzeichner verweisen auf die historische Dimension des deutschen Kolonialismus als Teil der deutschen Gewalt- und Unrechtsgeschichte. Dazu zählen nach ihren Angaben systematische Entrechtung, Zwangsarbeit und institutionalisierte Gewalt gegen die kolonisierten Bevölkerungen. Genannt werden unter anderem der Krieg gegen die sogenannte Boxer-Bewegung in China, der Genozid an den OvaHerero und Nama mit schätzungsweise 80.000 Toten sowie der Maji-Maji-Krieg in Ostafrika mit bis zu 300.000 Todesopfern.

Darüber hinaus wird darauf hingewiesen, dass sich Kolonialismus und antikolonialer Widerstand auch auf deutschem Boden manifestierten. Politische Netzwerke, Denkmäler, Ministerien, Forschungsinstitutionen, Museen, botanische Gärten und andere Alltagsorte seien bis heute sichtbare Zeugnisse dieser Geschichte.

Entscheidungsprozess ohne Beteiligung der Communitys

Kritisch angemerkt wird zudem der politische Entscheidungsprozess. Die Nicht-Aufnahme der Kolonialismus-Erinnerung in die Gedenkstättenkonzeption sei ohne Anhörung der relevanten Community-Organisationen und der im Feld aktiven Initiativen erfolgt. Dies stehe im Widerspruch zu langjährigen Forderungen nach partizipativen Ansätzen in der Erinnerungspolitik.

Die ursprüngliche Absicht, den Geltungsbereich der Gedenkstättenkonzeption zu erweitern, war von der früheren Kulturstaatsministerin Claudia Roth öffentlich vertreten worden. Nach öffentlicher Kritik wurde dieser Ansatz jedoch verworfen. Auch unter ihrem Nachfolger Wolfram Weimer wurde an der bisherigen Fokussierung festgehalten.

Zentrales Erinnerungsprojekt in Frage gestellt

Besondere Bedeutung messen die Unterzeichner der Perspektive eines zentralen Lern- und Erinnerungsortes zu kolonialem Unrecht bei. Ein solches Projekt ist seit 2021 im Koalitionsvertrag der Bundesregierung und seit 2016 in jenen des Landes Berlin verankert. Es gilt als zentrale Forderung zahlreicher afrikanischer, asiatischer und Schwarzer Organisationen sowie von Wissenschaftlerinnen, Künstlern und Pädagoginnen.

Durch die aktuelle Gedenkstättenkonzeption erscheint die Realisierung dieses Vorhabens nach Einschätzung der Unterzeichner jedoch zunehmend unrealistisch. Ohne bundespolitische Verankerung und entsprechende Fördermittel fehle eine tragfähige Grundlage für Planung und Umsetzung.

Forderungen an den Bund

In dem Offenen Brief formulieren die unterzeichnenden Organisationen und Einzelpersonen mehrere konkrete Forderungen. Der Bund solle ausreichend finanzielle Mittel für die Kolonialismus-Erinnerung bereitstellen und dauerhafte Förderstrukturen schaffen, vergleichbar mit jenen für NS- und SED-Erinnerungsarbeit. Zudem wird eine bundesweite Finanzierung von Lern- und Gedenkorten zur Kolonialismus-Aufarbeitung gefordert.

Ein weiterer zentraler Punkt ist die zeitnahe Entwicklung und Umsetzung eines zentralen Lern- und Erinnerungsortes zu kolonialem Unrecht in Abstimmung mit dem Land Berlin. Als fachliche Grundlage wird das kürzlich veröffentlichte gesamtstädtische Berliner Erinnerungskonzept „Kolonialismus erinnern“ genannt. Schließlich verlangen die Unterzeichner eine systematische Einbindung der betroffenen Communitys in alle weiteren Schritte der Konzeption und Umsetzung.

Laut Angaben der Unterzeichner wird der Offene Brief von 45 Organisationen sowie 141 Einzelpersonen getragen und versteht sich als Beitrag zu einer breiteren Debatte über Erinnerungskultur, historische Verantwortung und föderale Zuständigkeiten in Deutschland.

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