Nach der Begnadigung für Boualem Sansal gibt es neue Festnahmen

Der französisch-algerische Schriftsteller Boualem Sansal ist nach knapp einem Jahr Haft in Algerien begnadigt worden. Die Maßnahme wurde von Präsident Abdelmadjid Tebboune gewährt, nachdem Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier sich persönlich für eine Begnadigung eingesetzt hatte.

Präsidialer Gnadenakt nach fast einem Jahr Haft

Sansal war im November 2024 am Flughafen von Algier festgenommen und anschließend inhaftiert worden. Ein Gericht hatte ihn wegen „Attentat à la sûreté nationale“, also wegen Gefährdung der Staatssicherheit, zu fünf Jahren Haft verurteilt.

Am 1. Juli 2025 wurde dieses Urteil in zweiter Instanz bestätigt und mit einer Geldstrafe verbunden. Die Präsidentschaft in Algier erklärte, die nun gewährte Maßnahme der Milde erfolge nahezu auf den Tag genau ein Jahr nach der Festnahme.

Boualem Sansal besitzt sowohl die algerische als auch die französische Staatsangehörigkeit und ist Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels. Die gegen ihn erhobenen Vorwürfe standen im Zusammenhang mit Äußerungen in einem Interview vom Oktober 2024, in dem er auf historische Grenzfragen zwischen Algerien, Frankreich und Marokko eingegangen war.

Deutsche Vermittlung und medizinische Behandlung in Berlin

Bundespräsident Steinmeier bezeichnete die Begnadigung als wichtige humanitäre Entscheidung. In einer Erklärung vom 12. November 2025 sagte er, er freue sich, dass der algerische Staatspräsident seiner Bitte um Begnadigung entsprochen habe. Es sei ihm ein sehr wichtiges Anliegen gewesen, da Sansal in Deutschland viele Leserinnen, Leser und Freunde habe. Steinmeier dankte seinem algerischen Amtskollegen für eine „wichtige humanitäre Geste“, die zugleich die Qualität der Beziehungen und des Vertrauens zwischen Deutschland und Algerien erkennen lasse.

Nach Angaben des Bundespräsidialamts in Berlin wurde Sansal unmittelbar nach seiner Freilassung aus Algerien ausgeflogen. Ein ranghoher Referent Steinmeiers reiste nach Algier, um den Schriftsteller an Bord eines deutschen Flugzeugs der Flugbereitschaft der Bundeswehr zu begleiten. Der Autor traf am Mittwochabend in Berlin ein und wurde direkt in ein Krankenhaus gebracht. Seine Ehefrau soll nach diesen Angaben zeitnah aus Algerien nachreisen.

Reaktion des PEN Deutschland

PEN Deutschland würdigte die Entscheidung Algeriens als bedeutendes Signal. In einer Pressemitteilung vom 12. November 2025 heißt es, die Begnadigung sei „ein wichtiges Zeichen, sowohl für ihn als auch für alle Schriftsteller, die wegen ihres Schreibens verfolgt werden“.

Najem Wali, Vizepräsident und Writers-in-Prison-Beauftragter des PEN Deutschland, erklärte, man habe seit Beginn des Verfahrens bei verschiedenen Stellen auf Sansals Freilassung hingewirkt. Er betonte, man freue sich „doppelt: zum einen, weil Sansal wohl bald frei sein wird, zum anderen aber auch, weil unsere hartnäckige Arbeit sich lohnen kann“. Zugleich dankte er ausdrücklich Bundespräsident Steinmeier für dessen Initiative.

Französische Reaktionen und belastete Beziehungen zu Algier

Auch aus Paris kam eine politische Einordnung des Falls. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron begrüßte die Freilassung Sansals und sprach von einem Ergebnis „konsequenter Bemühungen“ Frankreichs, die auf „Respekt, Ruhe und Entschlossenheit“ beruhten. Die französische Position zum Fall steht vor dem Hintergrund ohnehin angespannten Verhältnisses zu Algerien.

Mehrere Faktoren belasten die bilateralen Beziehungen. Dazu gehört die Entscheidung Frankreichs, die marokkanische Souveränität über die Westsahara anzuerkennen. Hinzu kommt der anhaltende Streit um die Rücknahme abgelehnter algerischer Staatsbürgerinnen und Staatsbürger im Rahmen von Abschiebemaßnahmen aus Frankreich. Im Oktober hatte zudem die französische Nationalversammlung beschlossen, das Abkommen von 1968 zu beenden, das Algerierinnen und Algeriern erleichterten Zugang zu Aufenthalts- und Arbeitserlaubnissen in Frankreich gewährte.

Vor diesem Hintergrund ist die Begnadigung Sansals mehr als ein individueller Akt: Sie berührt das komplexe Dreiecksverhältnis zwischen Algerien, Deutschland und Frankreich und wird in Paris wie in Berlin ausdrücklich als Ergebnis diplomatischer Bemühungen gewertet.

Hintergrund des Falls Sansal und historische Sensibilitäten

Die Verurteilung Sansals stand in engem Zusammenhang mit Äußerungen zur kolonialen Vergangenheit Nordafrikas. In einem Interview mit dem Medium Frontières hatte er im Oktober 2024 darauf verwiesen, dass Frankreich während der Kolonialzeit Gebiete, die zuvor zu Marokko gehört hätten, Algerien zugeschlagen habe. Die algerische Justiz wertete dies als Angriff auf die nationale Einheit.

Die damalige Verurteilung fügte sich in eine Serie von Verfahren gegen Intellektuelle, Journalistinnen und Journalisten sowie Aktivistinnen und Aktivisten in Algerien. Nichtregierungsorganisationen und europäische Staaten kritisierten diese Verfahren als Teil einer breiteren Beschränkung der Meinungsfreiheit. Im Fall Sansal stand neben der rechtlichen Bewertung seiner Äußerungen auch die politische Dimension der Erinnerungspolitik im Mittelpunkt, die im algerisch-französischen Verhältnis seit Langem eine zentrale Rolle spielt.

Neue Festnahmen und Druck auf Medienschaffende

Parallel zur Begnadigung Sansals setzen die algerischen Behörden ihr Vorgehen gegen Personen fort, denen vorgeworfen wird, mit öffentlichen Äußerungen die Interessen des Staates zu untergraben. So berichtet das staatsnahe Nachrichtenportal Ennahar Online über die Festnahme einer marokkanischen TikTok-Influencerin, die unter dem Namen „Free Voice“ auftritt. Ihr wird zur Last gelegt, Inhalte zu veröffentlichen, die „gegen Algerien und die Algerier“ gerichtet und mutmaßlich „zugunsten der marokkanischen Behörden“ seien. Die Frau wurde einem Gericht vorgeführt und sieht sich dem Vorwurf ausgesetzt, Inhalte verbreitet zu haben, die darauf abzielten, die Interessen Algeriens zu schädigen.

Der Fall reiht sich in eine Serie von Ermittlungen und Anklagen gegen Medienschaffende ein. Bereits zuvor war der französische Journalist Christophe Gleize zu sieben Jahren Haft verurteilt worden. Er war im Mai des Vorjahres bei der Einreise mit einem Touristenvisum festgenommen worden und sieht sich dem Vorwurf der Rechtfertigung von „Terrorismus“ und des Besitzes von Propagandamaterial ausgesetzt.

Internationale Nichtregierungsorganisationen und europäische Akteure kritisieren regelmäßig, dass die wiederholten Festnahmen von Journalistinnen, Bloggern und Intellektuellen auf eine systematische Einschränkung der Meinungsfreiheit hindeuteten. Der Fall Sansal wurde in diesem Zusammenhang als prominentes Beispiel eines Vorgehens gegen kritische Stimmen wahrgenommen.

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